Die „Maison Emmanuel“ ist eine anthroposophisch-therapeutische Lebensgemeinschaft in der kanadischen Provinz Québec, in der aktuell 21 Menschen mit Behinderung (Villager) sowie etwa 25 Mitarbeitende und Freiwillige (Co-Worker) zusammen leben und arbeiten. Auf dem großen Gelände befinden sich fünf Wohnhäuser, darunter mein Zuhause „Maison Ellyn“, sowie eine kleine Farm mit Tieren und ein großer Gemüsegarten. Daneben liegen die Werkstätten, die tagsüber von BewohnerInnen und Freiwilligen besucht werden – etwa eine Holzwerkstatt, Weberei, Bäckerei und ein Kerzenzieh-Atelier.
Maison Ellyn lag etwas abseits im Wald und beherbergte in meinem Jahr fünf Villager, vier Co-Worker aus verschiedenen Ländern, eine Hausmutter und eine Angestellte. Jeder Co-Worker begleitet hier ein bis zwei Villager durch den Tag und unterstützt sie je nach Bedarf – zum Beispiel beim Anziehen, Zähneputzen oder Essen.
Meist begleitete ich einen Anfang dreißigjährigen Mann mit Autismus, den ich hier O. nenne. Unser Morgen sah in etwa so aus: Gegen 7.30 Uhr weckte ich ihn, legte seine Kleidung für den Tag raus und begleitete ihn zur Toilette. Anschließend brachte ich O. zurück in sein Zimmer und ließ ihn alleine, damit er sich anziehen konnte und dabei die nötige Privatsphäre hatte. Ab und zu musste ich aber nach ihm schauen, um ihn dazu zu motivieren und anzuleiten, sich weiter anzuziehen, da er schnell abgelenkt ist. Danach bereiteten wir das Frühstück vor und nach dem Tischgebet wurde gemeinsam gegessen.
Während manche Bewohner*innen selbstständig essen konnten, brauchten andere, so auch O., eine ständige Essensbegleitung. So wurde eine Bewohnerin gefüttert, bei anderen musste man darauf achten, dass sich niemand überaß und der Fokus auf dem Essen blieb. Kommuniziert haben wir dabei auf Französisch, Englisch und amerikanischer Gebärdensprache, die uns Stück für Stück beigebracht wurde. Anschließend wurde abgeräumt und gespült: Dabei hatte jeder eine eigene, zugeteilte Aufgabe. Solche Rituale führten nämlich dazu, dass jeder nach seinem Können gefordert und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt wurde.
Dieses Leitmotiv konnte man durchgehend im Alltag der Community beobachten. Der Fokus lag viel mehr auf dem, was man zur Gemeinschaft beitragen konnte und weniger auf dem, was durch eine Behinderung nicht möglich war. Eine besonders wertvolle Erfahrung für mich war dabei unsere Eurythmie-Aufführung, einer meiner Workshops, den ich zusammen mit acht Villagern und einer Freiwilligen besuchte. Nach einem halben Jahr Proben tanzten wir gemeinsam in weiten, luftigen Kostümen und Tüchern über die Bühne und erzählten das Märchen zweier Brüder. Ganz egal, ob im Rollstuhl oder laufend, ob nonverbal oder sprechend: Am Ende stellten wir ein ganzes Theaterstück auf die Beine, in das jeder ganz nach seinen Fähigkeiten eingebunden wurde und ein wichtiger Teil des Stücks war.
Abgesehen von all den schönen Erfahrungen, die ich aus meinem Freiwilligendienst mit nach Hause nehmen durfte, gab es aber auch schwere Zeiten. So bedeutet das Leben in einer Community auch, dass Arbeit und Freizeit kaum getrennt werden. Wenn man all die Zeit, in der wir als Freiwillige in einer Woche Anwesenheits- und Aufsichtspflicht hatten, zusammenzählt, kam man durchaus auf 70 Stunden Arbeit pro Woche.
Dass diese Zahl so hoch ist, lag auch an unseren Pausen- und Nachtschichten. Hatte man Nachtschicht, bedeutete das, dass man gegen elf Uhr abends die letzten Villager ins Bett brachte und dann mit Babyphone und Alarmen ausgestattet schlafen konnte, aber in Alarmbereitschaft sein musste. Fast jede Nacht kam es dazu, dass ein Bewohner aufstand und Hilfe benötigte. Das bedeute für mich in dem Fall eine Nacht mit vier Stunden Schlaf und einen vollgepackten kommenden Tag mit wenig Ruhezeit. Auch Aggressivität seitens der Villager konnte zu großen Herausforderungen führen.
Und trotzdem habe ich meinen Freiwilligendienst beendet. Weil ich meine Arbeit als so sinnstiftend empfand, war ich bereit, ein Jahr lang meine Privilegien für andere Menschen hinten anzustellen, die auf Unterstützung angewiesen sind. In diesem Jahr habe ich so unglaublich viel gelernt, gerade von Menschen mit Behinderung: Wie wichtig ein friedliches Miteinander ist, dass man gemeinsam so vieles schaffen kann und dass man auch ohne Worte seine Zuneigung und Liebe ausdrücken kann.
Nun bin ich gespannt auf mein Psychologie-Studium, werde aber sicherlich noch oft an meine Zeit in der „Maison Emmanuel“ zurück denken.